Hunger

DIE GROßE HUNGERSHOW

Eine Fernsehshow von Girl to Guerilla – Das Theaterkollektiv

Ich habe ein Problem: Ich richte Protest und intensiven Widerstand gegen das System des Neoliberalismus, werde von meinem Gegner aber immer missverstanden. Es denkt, ich hätte ein Bedürfnis artikuliert und schafft deshalb Produkte für mich. Ich will aber keine Produkte mehr, ich will raus!

Mitschnitt der Uraufführung
08.07.2020 im Theater im Kino, Berlin

Der Performer Knife Knightbusch geht mit seinem Dramaturgen Angelo Neumann und der Show Band „Organic Milk Baby“ der Frage nach, wie man Widerstand gegen ein System richten kann, das in höchstem Maße ungerecht und ausbeuterisch ist, das aber dennoch als alternativlos gesehen wird.*

*Triggerwarnung: In der Performance werden echtes Blut und andere Körpersäfte fließen.

Von und mit Knightbusch, Bogatschkin, Beckmann, TiK-Technik-Dream-Team

HUNGER
Der Blog

Mein Name ist René Ritterbusch, ich bin 33 Jahre alt und ich habe ein gestörtes Konsumverhalten. Doch damit ist jetzt Schluss.

  Das feiste, aufgedunsene Gesicht der Konsumgeilheit.

Dies ist ein Hungerstreik. Im Folgenden dokumentiere ich mein Experiment der totalen Konsumverweigerung. Ich schreibe über die persönlichen und politischen Beweggründe sowie über den Verlauf des Experiments. Mein psychophysischer Zustand und mein Blick auf die Konsum- und Warenwelt während der Fastenzeit werden Gegenstand dieser Beiträge sein.

Tag 11

24.01.2019

Auf einem von Bäumen umrahmten Platz liegt ein, um einige Zentimeter in Schutt begrabener Panzer. Das Ungetüm streckt die Ketten in die Luft, liegt also auf dem Kopf, sein Kanonenrohr ragt wie üblich vorne heraus, ebenfalls halb vom Schutt bedeckt, entbehrt es allerdings seiner einstigen, schrecklichen Gefahr. Unter großem Lärm und Dröhnen bewegen sich die Ketten, die das Fahrzeug antreiben sollen. Auf einer der Ketten ist ein Fitness-Laufband angebracht, das sich quasi in einer Umlenkung, zu den darunterliegenden Ketten um seinen Antrieb dreht. Mit lockerem Schritt und gleichgültigem Gesichtsausdruck läuft ein Jogger in Sportkleidung, das heißt kurzen Hosen, Trägershirt, Laufschuhen und sportlicher Sonnenbrille, auf dem Laufband. Nach einiger Zeit verlangsamt sich das Laufband, die Panzerketten werden leiser und die ganze Maschinerie kommt langsam zum stehen. Unbeeindruckt steigt der Jogger von dem Panzer herunter und verschwindet in einem nahegelegen Haus. So zu sehen war dieses Ereignis im Jahr 2011 in dem US-amerikanischen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Es handelte sich um die Installation „Gloria“ des Künstlerduos Allora & Calzadilla.

                                                Burger zweiter Klasse(unscharf)

Bezugnehmend auf seine Verhaftung wegen der Weigerung Steuern zu zahlen schreibt Henry David Thoreau in seinem 1854 erschienenen Werk ‚Walden‘: „Sicher ich hätte mich – mit mehr oder weniger Erfolg – gewaltsam widersetzen können, ich hätte Amok gegen die Gesellschaft laufen können; aber lieber sollte die Gesellschaft gegen mich Amok laufen, sie war doch die verzweifelte Partei. […] Nie bin ich von irgend jemandem belästigt worden, außer von den Vertretern des Staates.“ (Thoreau, Henry David – „Walden“, Diogenes Zürich, 1971) In einer Art passiven Umlenkung der Staatsgewalt beschreibt Thoreau so seinen gewaltlosen Widerstand gegen den Staat, dem er als Gegner von Militärausgaben die Steuern verweigerte und verbuchte die zusätzliche Belastung für den Staat durch den Verwaltungsakt und seine Inhaftierung als seinen Erfolg. In seinem 1849 erschienenen Essay ‚Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat‘ beschreibt Thoreau den Staat als lärmende Maschine, denn „… die Leute brauchen einfach irgendeine umständliche Maschine, sie wollen ihr Geräusch hören, um die Vorstellung zu befriedigen, die sie von einer Regierung haben.“ (Thoreau, Henry David – „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, Diogenes Zürich, 1996, S. 11)

Wie in der Installation von Allora & Calzadilla auf der Biennale 2011 gelingt es Thoreau eine Energie und Laufrichtung umzulenken, und sie dem Aggressor zu enteignen. Beide Ansätze betrachte ich als große Vorbilder für mein eigenes politisches Handeln. Indem ich eine Waffe nehme und sie zu einem Sportgerät mache, verwandele ich etwas, das dem Zweck der Vernichtung dient in etwas Zweckfreies. Ebenso müssen wir, die wir uns gegen das bestehende System der Ungerechtigkeit und Ausbeutung der Schwachen wenden, Vorgänge und Maschinerien enteignen, sie in eine Zweckfreiheit überführen, weil dies der einzige „Zweck“ ist, den das System nicht versteht. Wir müssen uns stets bemühen den bürokratischen Apparat des Staates mit seinen eigenen Mitteln auszubeuten. Ein Ignorieren hilft nicht, der Apparat muss in Anspruch genommen und überlastet werden. Darin liegt das Geheimnis des von Joseph Schumpeter etablierten Begriffs der „Schöpferischen Zerstörung“. (Vgl. Schumpeter – „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie) Denn für Schumpeter scheitert der Kapitalismus nicht an seinen wirtschaftlichen Fehlschlägen, sondern wegen seiner Erfolge.

Pflichtlektüre

Im März 1845 begann Thoreau, der vorher Lehrer und Landvermesser gewesen war, sein Experiment ‚Walden‘. Für zweieinhalb Jahre zog er einsam und als Selbstversorger in den Wald, baute sich eine Hütte an einem See und versuchte im Einklang mit der Natur zu leben. Minutiös beobachtete er seine Umwelt und notierte wie in einem wissenschaftlichen Experiment allerlei Daten und Erkenntnisse, so z.B. die Temperatur des Sees an verschiedenen Stellen und zu unterschiedlichen Jahreszeiten. Ähnlich wie Thoreau betrachte ich mein eigenes Experiment des Konsumverzichts, ich beobachte meine Umwelt, höre in mich hinein und versuche die Erkenntnisse daraus hier zu vermerken. Aber wie bei meinem Vorbild hat dieses Experiment auch einen abgesteckten zeitlichen Rahmen, und dieser endet Übermorgen. Das heiß Morgen wird der letzte Tag meines Hungerstreiks. Im Gegensatz zu Thoreau kann ich mein Experiment allerdings als ökonomischen Erfolg ausweisen, er vermerkte im ersten Kapitel von ‚Walden‘ ein Defizit von 25,21$.

Tag 10

23.01.2019

In einer Dokumentation des SWR sagt Claus Peymann, langjähriger Intendant des Berliner Ensembles, außerdem Wien, Bochum, und damals Stuttgart, der Prozess gegen die RAF in Stammheim sei ein Prozess gegen eine Generation gewesen, zu der er auch gehörte. Außerdem habe er geweint, als Ulrike Meinhof einmal beim Verlassen des Gerichtsaals, in einer etwas theatralen Geste, die Betonwand streifte. Ich habe kürzlich Ulrike Meinhofs Grab besucht. Ich habe nicht geweint. Aber ich hätte gerne geweint, hätte mit der Faust, in einer ebenfalls theatralen Geste auf den kleinen Grabstein gehauen und hätte ausgerufen: Verdammt! Diese Märtyrer im Kampf gegen den Imperialismus haben es mir angetan. Vor allem fasziniert mich Holger Meins, der sich während der Haft zu Tode gehungert hat. Diese Konsequenz und der Wille bis zum Äußersten zu gehen, imponieren mir sehr. Ich werde das nicht tun. Ich merke, wie sich mein Selbstversuch einem Ende nähert, weil ich nicht bereit bin auch nur meine Gesundheit zu gefährden.

„Gandhi für Arme“ nannte mich ein Freund letztens etwas despektierlich und er hat natürlich Recht mit seiner Kritik. Ich bin kein politischer Aktivist, ich bin eher ein Performer. Und dass ich mich dem Hunger aussetze, tue ich hauptsächlich für mich. Aber Gandhi sagte: „Wir können nicht gegen die Regierung rebellieren, wenn wir nicht zuerst gegen uns selbst rebellieren.“ Also mache ich einen Anfang und versuche mich an einem Hungerstreik. Gegen was? Na, gegen mein Gefängnis, gegen meine Haftbedingungen! Dieses System, das ich hier versuche zu kritisieren, ist ein Gefängnis für den Geist. Nur dass dieses Gefängnis kein Außen kennt. Es gibt keinen Ausbruch daraus, weil es überall ist. Als die RAF in Stammheim in den Hungerstreik trat, gab es noch ein Außen. Die Welt war geteilt in zwei Systeme, die sich gegenseitig belauerten. Das eine System hat gewonnen, weil es den Krieg nach seinen Regeln, nämlich denen des Marktes, geführt hatte.

          Mahatma Gandhi

In Steve McQueens Film ‚Hunger‘ spielt Michael Fassbender den IRA-Märtyrer Bobby Sands mit einer enormen Authentizitätswut. Bobby Sands und 9 weitere IRA-Mitglieder hungerten sich im Jahr 1981 zu Tode. Sie forderten, als politische Gefangene anerkannt zu werden, aber Margaret Thatcher machte ihrem Spitznamen alle Ehre und verweigerte ihnen diese Anerkennung. Fassbender magert sich für seiner Rolle herunter und sieht am Ende wirklich aus, als sei er dem Hungertod nah. Aber wie ich ist er eben auch kein politischer Aktivist, er ist ein Performer. So sehr er sich auch krümmt und im Spiel mit dem Tod ringt, wird er den tatsächlichen politischen Aktivismus und die letzte Konsequenz von Bobby Sands nicht nachvollziehen können. Und wir als Zuschauer werden es auch nicht nachvollziehen können.

Ganz anders macht es Sofia Coppola in ihrem Film ‚Marie Antoinette‘. Sie mutet den Zuschauenden und den Darstellenden nicht zu, was sie ohnehin nicht nachvollziehen können. ‚Marie Antoinette‘ ist ein Revolutionsfilm, der die Revolution ausspart. Zwei Stunden lang sehen wir imposante Maskenbälle, bombastische Kostüme, kurz die ganze Dekadenz dieser adligen Gesellschaft. Kirsten Dunst wie sie mit dem Blick in die Gärten von Versailles melancholisch gegen eine Fensterscheibe atmet. Denn das ist es, was wir nachvollziehen können. Dieser dekadente Seufzer gegen die Fensterscheibe im Versailler Schloss, das ist mir nah, das kann ich nachvollziehen. Bis auf einige Geräusche von Außen und einige Bilder am Schluss des Filmes findet die Revolution nicht statt. Mehr können wir nicht erwarten.

Tag 9

22.01.2019

Glaube: Wenn ich in die Gesichter „mächtiger“ Menschen sehe, erkenne ich ein vollkommenes Unverständnis für die Probleme in unserer Welt. Es ist, als würden sie eine andere Sprache sprechen und damit alles in Banalität verkehren. Fragen der Gerechtigkeit und des Umweltschutzes, beantworten sie mit ökonomischen Zusammenhängen, als zitierten sie Naturgesetze. Den Wunsch nach Freiheit beantworten sie mit freier Marktwirtschaft. Schnell bin ich geneigt, sie für dumm zu halten, und auf Einige trifft das wohl auch zu. Andere wiederum sind intelligente Soziopathen. Sie tarnen sich mit grauen Anzügen und pastellfarbenen Kostümen, um die gemeinsten Verbrechen auszuhecken. Meistens bestehlen sie die Menschen bloß, aber manchmal töten sie auch. Dann lassen sie Bomben abwerfen auf Gebiete, die sie meist nicht einmal kennen. Viele von ihnen sind sogar so schizophren, dass sie die ausgebeuteten Menschen abstimmen lassen, wer von ihnen der oder die Größte sein soll. Die Verlierer sind dann ganz eifersüchtig und die Gewinner feiern eine große Party und bewerfen sich gegenseitig mit Geld. Den Alltag verbringen sie in großen Verwaltungsgebäuden, wo sie der Kultur ihrer Banalsprache frönen. Dort plustern sie sich auf wie dicke Kröten und krakelen laut herum.

Liebe: Ich kann das alles akzeptieren. Ich finde es gut, dass es so ist, wie es ist und dass meine Liebe eben ausströmt. Soll sie doch strömen, wohin sie will. Aber sie will eben zu Dir. Ich versuche das abzuschütteln und das nicht zu fühlen. Das kann doch nicht so schwer sein. Ich denke doch permanent Dinge. Dann könnte doch auch eines dieser Dinge nicht Du sein. Es ist ein Kampf, aber auch schön, wenn ich Dich sehe, so wie du bist. Heimlich versuche ich Makel zu erkennen, an meinem perfekten Bild von Dir zu kratzen, einen Moment zu erhaschen, in dem Du vielleicht anders wärst. Ein Moment, in dem Du mir nicht gefällst, also möglichst nicht Du wärst. Es könnte alles so einfach sein. Es könnte alles so einfach sein, wenn Du nicht so unfassbar wärst. Wenn ich Dich ansehe, bin ich beseelt von Deiner Schönheit. Wenn ich Dir zuhöre, hänge ich fasziniert an Deinen Lippen. Wenn ich Dich rieche, begehre ich Dich noch viel mehr. An dieser Stelle ist jedes Mal Schluss. Das ist alles, was ich zu erwarten habe. Das zu sehen, zu fühlen und damit Schluss. Wie im Petrarkismus bin ich darin gefangen dieses Gefühl zu konservieren und nicht mehr zu erwarten. Sehnsucht ist wie Hunger. Und ich verhungere hier gerade. Wie könnte ich in diesem Zustand gerecht sein oder Dir werden? Es bleibt mir nur weiter zu schmachten in all seiner Lächerlichkeit, meiner Lächerlichkeit. Wogegen kämpfen? Wofür? Ein Blick in die Welt, die ihn nicht erwidert.

Spiderman

Hoffnung: Ich bin dafür, dass alle Menschen im Erwachsenenleben das machen sollen, was sie sich als erstes im Kindesalter gewünscht haben. Es wäre eine wunderbare, gerechte Welt, voller Bauarbeiterinnen, Feuerwehrleuten, Ärzten, Köchinnen, Indianern, Dinosaurierforscherinnen, Spaceshuttlepilotinnen, Spidermans und Spiderwomans.

Tag 8

21.01.2019

Unten, wo das mächtige, grellbunte Gebäude den Boden berührt, finden sich zwei Öffnungen, Riesige Türen, die sich wie Turbinen im Kreis drehen, alles in ihrer Umgebung ansaugen und verschlucken. Im Schlund des Monstrums erwartet dich diffuses Licht, wirre Geräusche, die von unverständlichen Gesprächen, Schritten, Klappern, Rascheln zeugen. Eine Orientierung wird durch eine Vielzahl Schilder vorgegeben, alles in diesem Gebäude wirbt um deine Aufmerksamkeit. Langsam wird eine Melodie hörbar, es ist keine Musik aber so etwas ähnliches. Dieser Klangteppich verschwindet durch seine Belanglosigkeit beinahe im Unterbewusstsein, bleibt aber ein permanenter Stachel in Deinem Kopf. Sobald man die einzelnen Räume betritt, dreschen Unmengen von Informationen und Reizen auf einen herein. Man möchte schreien, weil die vielen Gerüche, Farben, Klänge, Gedanken einen erdrücken. Zusammen mit einer großen Zahl Leidensgenossen zwängst du dich durch die Gänge, immer weiter. Die schiere Größe des Gebäudes, die Menge an Informationen und Sinneseindrücken vermitteln ein Gefühl von Unendlichkeit. Lakaien in schlecht sitzenden Polohemden mit kleinen Schildern an der Brust, auf denen ihre Vornamen wie zur Schande prangen, kommen auf dich zu und bedrängen dich. Panisch weichst du zurück, bahnst dir deinen Weg durch die Gänge, hin zum Eingang durch den du gekommen bist. Man muss ankämpfen gegen den Strom der Turbinen, die die armen Seelen weiter hineinsaugen. Du schaffst es hinaus zu schlüpfen, stehst vor dem Gebäude und blickst zurück. Es ist ein Brutalistischer Bau, der in ein infantiles Schweinchenrosa getaucht wurde. Auf seinen dicken Betonmauern werden rote Buchstaben sichtbar, die ein Wort formen: Alexa

Einkaufszentrum – Münster Arkaden

„Die Worte sah ich dort in dunkler Farbe. Zu den Häupten eines Toren angeschrieben. […] Hier muss man jeden Argwohn fallen lassen, und jede Feigeheit muss des Todes sterben.“ (Alighieri, Dante – Die göttliche Komödie, S.15, Reclam Suttgart 2001) So beschreibt Dante im 14. Jhd. die Ankunft in der Vorhölle und ich frage mich, ob es sich um die Vision eines modernen Shopping Centers handeln könnte.Mittelalterliche Höllendarstellungen üben eine starke Faszination auf mich aus und immer wieder fallen mir Ähnlichkeiten zu kapitalistischer Architektur und Raumgestaltung auf. Auch das Thema der Unendlichkeit wird in der Eingangshalle einer großen Shopping Mall spürbar. Im Mittelalter hatte man die Vorstellung, dass sich die Eingänge zur Hölle in Höhlen oder Vulkanen befinden, Orte die meist weit entfernt waren von den bewohnten Städten. Heute befinden sich die Eingänge im Zentrum einer jeden Stadt. Die Hölle ist uns in der Vorstellung näher gekommen.

Erlösung durch Konsum

Das moderne Shooping Center ist eine Idee, die aus den USA importiert wurde und unterscheidet sich massiv von einem traditionellen Marktplatz. Das Design und die Architektur sind hochgradig funktional, nichts dort ist zufällig. Harun Farocki begleitete für seinen 2001 erschienen Film „Schöpfer der Einkaufswelten“ Investoren, Architekten und Kommunalpolitiker bei der Planung eines Shopping Centers in Münster. Dabei wird klar, dass diese Gebäude ähnlich wie mittelalterliche Höllendarstellungen mit den Träumen der Menschen verknüpft sind. Der Marktplatz war ein Ort der soziokulturell und organisch gewachsen ist, an dem man sich traf und handelte, um einen Mangel durch Konsum zu befriedigen. Die Shopping Mall ist kein Ort der Begegnung und dient auch nicht der Befriedigung eines Mangels. Shoppen geht man nicht, weil man etwas braucht. Es geht um Wünsche und Träume, die niemals erfüllt werden. Das ist das Prinzip eines Shopping Centers.

Seit Jahren versucht man uns weis zu machen, dass Shopping so etwas wie ein entspannendes Freizeitvergnügen ist und damit Teil einer kulturellen Praxis, die verwandt ist mit dem Jagen und Sammeln. Es handelt sich aber vielmehr um eine zwanghaftes Verhalten, das aber leider in einem hohen Maße gesellschaftlich akzeptiert wird. Und die Hölle kommt immer näher: Lag der Eingang der Hölle im Mittelalter noch in Vulkanen oder abgelegenen Höhlen, befindet er sich seit den 80er Jahren im Zentrum unserer Städte und erreicht uns inzwischen auch im eigenen Heim. Inzwischen ist jeder Computer und jedes Smartphone eine persönlicher Eingang zur Hölle.

Tag 7

20.01.2019

Vor einigen Monaten habe ich etwas beobachtet, das mir seither nicht aus dem Kopf geht, weil es von einer stillen, eigentümlichen Brutalität war. Die S-Bahn mit der ich fuhr, hielt an einem Bahnhof. Ich schaute aus dem Fenster auf den Bahnsteig und sah einen jungen Mann, der vermutlich auf der Suche nach Pfandflaschen in einen Müllcontainer griff. Zuerst wunderte ich mich, dass er bis zu den Schultern in dem kleinen Container steckte. Als er eine Flasche heraus zog und nach ihrem Wert begutachtete, verstand ich, warum er so tief in dem Container gesteckt hatte. Der Mann hatte keine Hände, die Unterarme waren nur kurze Stummel, die sich an die Flasche klammerten. Umrahmt wurde diese Szene durch einen Coffee to go-Stand und das große, beleuchtete Werbeplakat eines Supermarktes. Jetzt da ich diese Situation beschreibe, kommt sie mir beinahe etwas melodramatisch vor, als würde ich von einem Film sprechen, in dem etwas dick aufgetragen wurde, weiß-blau-beleuchteter Sozialkitsch.

Hand des Autoren

An einem anderen S-Bahnhof in Berlin gibt es eine Häuserwand, an der das Brechtzitat: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume beinahe ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt?“ steht. Es sind die Zeiten in denen wir leben, es ist hier und jetzt, würde ich sagen. Denn es handelt sich nicht um Filmszenen und das ist auch kein Sozialkitsch, es ist leider die Wirklichkeit. Brecht spricht aus der Zeit des Nationalsozialismus, wo das Sprechen über die Untaten der Nazis durch Zensur und Verfolgung unmöglich war. Das ist heute anders, wir können darüber sprechen. Wir sind eher irrwitzigen Aufmerksamkeitsdynamiken ausgesetzt, die den Blick auf die Untaten behindern. Wir leben in Zeiten, da Informationen vollkommen willkürlich und gleichberechtigt nebeneinander stehen. Die Zahl der Hungertoten in der Welt steht direkt neben einem Diätblog irgendeiner youtube-Göre. Und aus dieser Perspektive ist auch dieser Blog, zu meinem naiven Experiment der Konsumverweigerung höchst problematisch.

Hand eines Baumes

„Der Kapitalismus der Emotionen macht Gebrauch von der Freiheit. Die Emotion wird als Ausdruck freier Subjektivität begrüßt. Die neoliberale Machttechnik beutet gerade diese Subjektivität aus.“ (Han, Byung-Chul – Psychopolitik, Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, S.64, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2014) Han bemerkt in seinem Kapitel ‚Der Kapitalismus der Emotionen‘ unterschiedliche Zeitlichkeiten von Emotion, Gefühl und Affekt. Während Emotionen und Affekte ganz subjektiv und von kurzer Dauer sind, seien Gefühle objektiv und von längerer Dauer. Bei der Beschreibung meines Erlebnisses in der S-Bahn empfinde ich noch immer Mitgefühl, es ist ein andauerndes, starkes Gefühl, das mich beschäftigt. Und wenn ich Anderen davon berichte, empfinden sie in der Regel ebenfalls Mitgefühl, aber diese Art der Empathie wird durch die digitale Kommunikation und vor allem durch den Kapitalismus gestört. Digitale Medien sind reine Affektmedien, es entstehen kurze Impulse, die sich mit enormer Geschwindigkeit durchs Netzwerk bewegen. Diese Affektströme unterscheiden sich in ihrer Wirkung stark von Gefühlen und sind charakteristisch für die digitale Kommunikation. Der konsumorientierte Kapitalismus vereinnahmt die Emotionen und setzt sie als Ressource für mehr Produktivität und Leistung ein.

Letztlich geht es um Beschleunigung und eine massive Überforderung des Einzelnen durch digitale Medien, die Konsum- und Warenwelt, sowie den allgegenwärtigen Leistungsimperativ. Eine ständige Reizüberflutung dieser Art führt zu einer Verrohung des Gefühls und zu einer Distanzierung von uns selbst. Empathie ist wohl eine der wichtigsten Fähigkeiten des Menschen und diese wird zunehmend für kapitalistische Zwecke ausgebeutet. Wir sollten versuchen uns neu zu sensibilisieren.

Tag 6

19.01.2019

„Fehlt es Dir etwa am Nötigsten? Sind nicht die Straßen voll von Gemüse, die Brunnen voll von Wasser? […] Biete ich dir nicht eine billige, anspruchslose Zukost – den Hunger? Isst der Hungrige nicht mit dem größten Vergnügen, und vermisst er nicht am wenigsten den Trank, den er nicht hat? Oder hungert man nach Kuchen und dürstet nach Wein? Sucht man diese Dinge nicht aus Liebe zum Luxus?“ (Teles: Über die Selbstgenügsamkeit in Luck, Georg – Die Weisheit der Hunde, S. 259, Kröner Stuttgart 1997)

‚Die Hunde‘ nannte sich eine Reihe von griechischen Philosophen, die ab dem 5 Jahrhundert v. Chr. ihre Mitmenschen durch zynische Kommentare und moralische Überlegenheit entnervten. Der Kynismus (aus dem griechischen Kynos: Hund) war eine Philosophische Strömung die vor allem ein Ideal der Bedürfnislosigkeit und des ethischen Skeptizismus propagierte. Die Kyniker trugen zerschlissene Kleidung, lebten unter freiem Himmel und aßen, was sie eben gerade fanden. Die Idee besteht darin, den Besitz auf ein Minimum zu reduzieren, um durch diese Unabhängikeit Glückseligkeit zu erlangen. Somit sind sie die geistigen Vorfahren von Tyler Durden, der in Chuck Palahniuks ‚Fight Club‘ sagt: „Alles was du hast, hat irgendwann dich.“ und damit einen der Grundsätze des Kynismus paraphrasiert.

Zwei Kyniker im Dialog

Das Hundsein oder das Hündische ist vielleicht das eigentliche Ziel dieses Experiments. Das zeigt sich am heutigen Tag ganz deutlich. Ich verspüre eine gewisse Bedürfnislosigkeit. Der Hunger ist verschwunden und mein Körper versorgt sich autark mit Energie. Das gibt einem ein Gefühl von Macht und Stärke. Ich muss nicht essen. Wie ein Hund streune ich durch die Straßen und schaue auf jene herab, die schwach sind. Wie sie in die Konsumtempel strömen und sich vollfressen, ständig auf der Suche nach dem nächsten Genuss, dem nächsten Lustgewinn mittels Konsum. Die Kyniker waren Prediger, sie zogen durch die Welt und predigten Bedürfnislosigkeit, kommentierten renitent den Alltag derer, die ein Leben in Abhängigkeit von Besitz und Konsum pflegten. Es ist diese großkotzige, moralische Überlegenheit, die ich gerade selbst verspüre. Sollte ich zu einem Kyniker geworden sein, hoffe ich diese Haltung wieder abzulegen zu können, weil sie mir zuwider ist.

Bedürfnislosigkeit heißt also nichts zu brauchen und es ist vorstellbar, dass es sich dabei um einen seligen Zustand handelt. Doch kann man diesen Zustand wohl schwer von Anderen einfordern. Genau genommen führt es sogar in ein Paradox, zu sagen: „Brauche nichts!“ In der Wirtschaftstheorie unterscheidet man zwischen Bedürfnis und Bedarf. Bedürfnis beschreibt den Mangel an etwas und das Bestreben diesen Mangel zu beseitigen, während Bedarf zusätzlich die Kaufkraft impliziert. Also gibt es ohne Kaufkraft keinen Bedarf. Somit ist der Bedarf ein materieller Zustand, und das Bedürfnis ist ein Gefühl oder ein Affekt. Bedürfnislosigkeit wiederum ist eher eine Haltung. Man kann dieser Haltung mehr oder weniger gerecht werden, erfüllen wird man sie wohl nicht.

Orakel von Delphi

In unserer Gesellschaft wird der Begriff der Freiheit häufig gleich gesetzt mit der Fähigkeit seine Bedürfnisse nach Belieben zu befriedigen, mag dieses Bedürfnis ein elementares oder ein künstliches sein. Allzu oft agieren wir als neoliberale Subjekte und sehen uns zu unternehmerischem Handeln genötigt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Das Kapital beutet die Freiheit des Individuums aus, um weiter zu wachsen. Wahre Freiheit besteht darin sich freizumachen von dem Handeln als neoliberales Subjekt und das geht eben nur, indem man sich dem Prinzip von Arbeit und Konsum verweigert. Die Haltung der Kyniker ist grandios, aber eben nur wenn ich sie auf mich selbst und nicht auf Andere richte.

Tag 5

18.01.2019

Ich starte den Tag mit einem Experiment: Etwa eine halbe Stunde lang höre ich nur in mich hinein und frage, wie es mir geht. Das habe ich vermutlich noch nie gemacht. Der Hunger hat stark nachgelassen und ich fühle mich recht munter. Ich verspüre ein leichtes Ziehen am rechten Kinnwinkel und mein Magen fühlt sich irgendwie fest an. Er macht auch recht viele Geräusche dafür, dass er seit Tagen nichts zu verdauen hatte. Ich höre auf meinen Atem, atme tief ein und wieder aus, dann konstatiere ich: Es geht mir gut. Seit zwei Tagen habe ich immer wieder das Gefühl eine andere Zeitwahrnehmung zu haben als sonst. Ich lasse mir für Vieles mehr Zeit, ich mache Dinge bewusster und ich komme nicht mehr zu spät zu Verabredungen, eher bin ich zu früh dran. Es ist, als wäre ich wieder in der Gegenwart angekommen.

   Installation einer Wassersammelstation (Foto: Katja Stelmaszyk)

Konfrontiert mit dem Geist, der ihm die Ermordung seines Vaters durch seinen Onkel offenbart, bemerkt Shakespeares Hamlet: „Die Zeit ist aus den Fugen“. Was da aus den Fugen geraten ist, ist die Ordnung seiner Welt. Aber was wäre die Zeit anderes als eine Ordnungssystem? Unsere Zeit ist aus den Fugen, weil sich die Zukunft zumeist vor der Gegenwart ereignet. Durch diese Gegenläufigkeit entsteht der Eindruck einer wahnsinnigen Geschwindigkeit und das ist sehr anstrengend.

Wassersammelstation im Plänterwald (Foto: Katja Stelmaszyk)

Als die USA im März 2003 den Irak bombardieren, sind die gängigen Begründungen bzw. der Grund für einen Krieg nicht erfüllt. Die Ursache für das Ereignis musste also erst noch belegt werden. Mark-Uwe Kling beschreibt in seinem Roman ‚Quality-Land‘ einen Onlinelieferdienst, der durch seinen komplexen Algorithmus Waren verschickt, die die Kunden nicht bestellt haben, aber brauchen werden. Diese Künstliche Intelligenz ist soweit fortgeschritten, dass sie mit absoluter Sicherheit voraussagt, was der Kunde braucht oder sich wünscht. Die moderne Kriminalistik arbeitet, ähnlich wie in der Erzählung ‚Minority Report‘ von Phillip K. Dick, an Methoden Verbrecher zu fassen, bevor sie das Verbrechen begehen. Diese drei Beispiele haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: Es sind präemtive Methodiken. Dabei handelt es sich um Methoden, die ein zukünftiges Ereignis als wahrhaftig und konsistent vorweg nehmen und darauf reagieren. Die vermeintliche Verlässlichkeit von Schlussfolgerungen und Berechnungen versetzen uns in eine Zukunft, die wir nicht kontrollieren können.

Auf unserem Planeten übersteigt das Volumen der Finanzwirtschaft das Volumen der Realwirtschaft um eine Vielfaches. Die Finanzwirtschaft operiert ganz selbstverständlich mit der Zukunft. So dienten z.B. Derivate ursprünglich als eine Art Versicherung, die den Wert einer Ware für ein in der Zukunft liegendes Geschäft garantiert. Das spekulative Potenzial solcher teleologisch in die Zukunft gerichteter Vertragsformen ließ den Handel mit ihnen in den letzten Jahrzehnten explodieren. Allerdings ist es so, dass die Spekulation auf Ereignisse, die sich in der Zukunft befinden, einen entscheidenden Einfluss auf das eintretende Ereignis haben. Man kann dabei im weitesten Sinne von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen sprechen.

   Bärenmarkt an der Börse

Genaugenommen muss man sich die Gegenwart vorstellen als einen geometrischen Punkt, sie hat keine Ausdehnung. Und genau da sitze ich und frage mich selbst, wie es mir geht, versuche selbst zum Punkt zu werden, oder zumindest auf einen zu kommen. Die Verzweiflung über die Welt wiegt schwer an diesem Tag.

Tag 4

17.01.2019

Wenn man die Nahrungsaufnahme für mehrere Tage verweigert, findet eine radikale Veränderung der Genexpression in Herz-, Leber- und Muskelzellen statt. Die Funktion der Zellen verändert sich, weil diese in eine Art Schutzbetrieb umschalten. Was Mikrobiologen da beobachten können, sind rasend schnelle, tiefgreifende Veränderungen, die evolutionär im Zellgedächtnis verankert sind. Es ist eine Art atavistischer Reflex, der den Organismus stärkt gegen negative Einflüsse. Gleichzeitig werden beim Fasten alle Stoffwechselfunktionen verlangsamt, es findet kein Wachstum mehr statt. Im Gegensatz zum Krebs, bei dem sich die Zellinformationen ebenfalls verändern, was aber zu einem enormen Wachstum führt und sich gegen den Organismus richtet.

Krebs ist nicht etwa eine Krankheit, wie man im allgemeinen vermutet. Krebs ist vor allem ein Machtmittel der heute vorherrschenden Ideologie zur Unterdrückung der Massen, wobei die Angst als Marketinginstrument missbraucht wird. Diese Ideologie ist darauf ausgelegt, Konsum zu propagieren, selbst wenn Verzicht überlebensnotwendig wäre. Riesige Metastasen wuchern weltweit aus Bankhäusern und Börsengebäuden, befallen und veröden alles, was gesund und lebendig ist. Mit unstillbarem Hunger ziehen Anlageberater und Immobilienspekulanten wie Zombies durch unsere Straßen und fordern Leben um Leben.

Grave hopping – Heiner Müller

Dem berühmten, griechischen Tragödiendichter Aischylos soll zu Lebzeiten eine Weissagung gemacht worden sein: Er solle sich vor dem Einsturz eines Hauses hüten, weil es ihn töten würde. Aischylos vermied es deshalb in alte oder baufällige Häuser zu gehen. Eines Tages wurde er von einem Schildkrötenpanzer erschlagen, den ein Adler auf ihn herab fallen ließ. In seinem Aufsatz ‚Philosophieren heißt sterben lernen‘ bedient sich Michel de Montaigne dieser Anekdote über den antiken griechischen Autor, um die Willkür und Unvorhersehbarkeit des Todes zu verdeutlichen. De Montaigne tritt für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Tod ein und schreibt: „Nehmen wir ihm das Fremde, machen wir seine Bekanntschaft, halten wir mit ihm Umgang und lassen uns nichts so oft vor den Gedanken vorbeieilen wie den Tod. Halten wir ihn alle Augenblicke unserer Einbildung vor, und zwar unter allen seinen Gestalten:“ (De Montaigne, Michel – Von der Kinderzucht bis zum Sterbenlernen, Area Erftstadt, 2004)

Der Tod und das Sterben ist etwas, das mich sehr stark beschäftigt, seit ich dem Alter entwachsen bin, da ich mich für unsterblich hielt. Häufig findet eine Auseinandersetzung mit dem Tod auf einer sehr distanzierten, rationalen Ebene statt. Doch mich interessiert mehr die emotionale Komponente: Die Angst vor dem Tod. De Montaigne glaubt diese Angst zu besiegen, wenn er den Tod nur in jedem Moment erwarte. Doch liegt der Schrecken für mich nicht allein in der Überraschung, mit der der Tod unter Umständen eintritt. Vielmehr ist es der Umgang mit dem Nichts, welches ich eben nicht denken kann. Das Nichts ist etwas, das weit außerhalb meiner Vorstellung liegt.

Blutdurstiger Anlageberater

Durch das Fasten ist mein Körper in einen Zustand versetzt, der für ihn Überlebenskampf bedeutet. Und diese vermeintliche Nähe zum Tod scheint einen Einfluss auf das Denken zu haben. In manchen Momenten habe ich den Eindruck, dass alle Sinne geschärft sind und ich alles klarer sehe als sonst. In anderen Momenten fühle ich mich sehr schlapp und stumpf, das Denken fällt schwer und sprechen noch schwerer. Der Tag strukturiert sich anders, als ich es gewohnt bin. Durch den Mangel an Energie, bin ich am Abend sehr müde, schlafe früh ein. Dafür bin ich am Morgen früh wach. Der Morgen hält für mich im Moment die produktivsten Stunden bereit und ich versuche sie zu nutzen.

Moos – Dorotheenstädtischer Friedhof

Der Verzicht ist mit Ängsten verbunden, weil wir in einer Ideologie des Bereicherns und des Wachstums leben. Innerhalb dieses Systems neigen wir dazu, Probleme und Fragen zu behandeln, indem immer etwas hinzugenommen werden muss. Aber die Lösung kann auch darin liegen, etwas wegzulassen. Vielleicht ist es auch mal nötig alles wegzulassen. Und bedeutet die Abwesenheit von allem nicht – Nichts?

Tag 3

16.01.2019

Dies ist kein beschissener Personal Development Blog! Ich bin nicht an Selbstoptimierung interessiert und will keines Falls missverstanden werden als jemand, der zur Arbeit am Selbst aufruft. Ich habe Hunger, ich friere ständig und vor allem bin ich sehr gereizt. Besonders ärgern mich mediale Formate, die sich als Hilfestellung für Selbstverbesserung oder noch schlimmer, als bewertende Instanz für irgendwelche Körpernormen ausgeben. Nichts ist so ergiebig für den Kapitalismus wie eine Spaltung in der Wahrnehmung des eigenen Körpers zu dem fiktiven Ideal eines Körpers, das ein Produkt moderner Bildbearbeitung ist. Diese Spaltung vom Selbstbild ist deshalb so lukrativ, weil ihre Unerreichbarkeit nur durch eine Flut von Waren überbrückt werden kann. Das Problem betrifft aber nicht nur die Arbeit am „mangelhaften“ Körper, sondern auch die Arbeit an der Persönlichkeit und im schlimmsten Falle die Arbeit an den eigenen Emotionen. Menschen die überglücklich von Plakaten herunter lachen, vermitteln einen Eindruck davon, wie glücklich man sein könnte, fordern einen Abgleich mit der eigenen Glücksskala ein und werden zu einem Imperativ des Glücks. Und da die Arbeit am eigenen Selbst nur sinnvoll erscheint, solange meine Umgebung das propagierte Ideal nicht anzweifelt, ist das Fernsehen und das Internet voll von Erziehungsprogrammen.

 Formen der Arbeit am Selbst

Franz Kafka, der aus meiner Sicht, die hohe Kunst beherrschte Erzählungen mit einem bombastischen ersten Satz zu beginnen, leitet ‚Ein Hungerkünstler‘ mit dem Satz ein: „In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurück gegangen.“ Kafkas erste Sätze sind deshalb so stark, weil sie formal wirken wie eine beiläufige Aussage über einen alltäglichen Zusammenhang, im Inhalt allerdings ganz Ungeheuerliches zu Tage fördern. Sofort ist man in eine absurde Situation geworfen, die man ganz selbstverständlich akzeptieren muss.

Kafkas Hungerkünstler verdingt sich als Live-Event, er hungert regelmäßig etwa 40 Tage lang, dann unterbricht der Veranstalter das Fasten. Nicht weil er nicht länger fasten könnte, sondern weil das öffentliche Interesse nach etwa 40 Tagen deutlich nachlässt. Innerhalb dieses Zeitraums ist der Hungerkünstler eine kleine Berühmtheit. Doch die Zeiten ändern sich, Aufträge und Publikum bleiben aus, sodass er sich am Ende einem Zirkus anschließt und dort in einem Käfig vergessen wird. Dem Hungertod nahe wird er gefunden und offenbart sich einem Aufseher: Er wollte immer für das hungern bewundert werden. Man sollte ihn aber nicht bewundern, denn es sei ihm nie schwer gefallen nichts zu essen, weil er niemals etwas gegessen habe, das ihm geschmeckt hat.

Problemzone ‚Knie‘ des Autoren

Ist Dir, mein geneigter Leser, einmal aufgefallen, dass wir in den neuen Medien ständig nach unserer Meinung gefragt werden? Fortwährend sollen wir Dinge, Menschen und Umstände bewerten und beurteilen. Wir nehmen an Evaluationen teil, um dieses oder jenes zu optimieren, wir bedenken Style und Outfit mit Likes, Dislikes oder Power-Rangers-Emojis und schauen Castingshows mit der Haltung eines Juroren. Dabei solltest Du eines bedenken: Deine Mutter interessiert sich für Deine verdammte Meinung… vielleicht… aber niemand sonst! Denn was dort abgefragt wird, ist nicht etwa Deine Meinung zu relevanten Themen, sondern dein Konsumverhalten. Wir sind selbst zur Ware geworden. Wir sind selbst zu Produkten der Lifestyle-Obsession geworden und versuchen permanent uns und andere zu optimieren.

Der Hungerkünstler macht am Ende eines ganz deutlich: Hungern ist keine Arbeit. Es ist das Gegenteil davon. Konsum ist die Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln. Und dem verweigere ich mich.

Tag 2

15.01.2019

Als eine Art Parasit des Christentums ist der Kapitalismus über die letzten vier Jahrhunderte zu einem mächtigen Wesen heran gewachsen, sodass er inzwischen seinen ursprünglichen Wirt an Größe und Grausamkeit übertrifft. In einer Form von Mimikry spiegelt er nun die Gestalt einer Religion. Walter Benjamin beschreibt den Kapitalismus als eine reine Kultreligion, bei der das Ausleben des Kultes permanent stattfindet, mit dem besonderen Unterschied, dass der Kultus dieser Religion nicht entsühnend sondern verschuldend wirkt. (Vgl. Benjamin „Kapitalismus als Religion“) Wir alle haben uns schuldig gemacht und versuchen uns davon zu reinigen, aber weil im Kapitalismus keine Sühne zu finden ist, versuchen wir die Schuld letztlich universal zu machen. Bezug nehmend auf Freud schreibt Benjamin: „Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewussten verzinst.“ (Baecker, Dirk „Kapitalismus als Religion“, Kadmos Berlin 2004, S. 8)

   Zehnschiffiger kapitalistischer Sakralbau

Die wichtigste Erkenntnis des zweiten Tages meines Hungerstreikes ist, dass mir das Rauchen mehr fehlt als das Essen. Was natürlich zu der Frage führt, in welchen unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen ich eigentlich stehe, wie dringlich diese Abhängigkeiten sind und an welchem Punkt in diesem Experiment Schluss ist. Mit dem Schluss meine ich, wie lange kann ich diese Konsumverweigerung betreiben und was ist alles darin inbegriffen? Letztlich ist dies natürlich auch die Frage nach einer Definition von Konsum, die ich im weiteren Sinne mit der wörtlichen Übersetzung aus dem Lateinischen ‚consumere‘ also ‚verbrauchen‘ beantworten würde. Genauer betrachtet bezieht sich meine Verweigerung aber hauptsächlich auf Dinge die Waren (Vgl. Marx „Das Kapital“ Erstes Buch – Erster Abschnitt: Ware und Geld) geworden sind.

  Säulengang mit Sakristei

Doch wie weit kann ich diesen Selbstversuch treiben? Ich kann etwa 90 Sekunden auskommen ohne zu atmen, ohne Wasser kann ich etwa 3 bis 4 Tage überleben. Auf feste Nahrung kann ich etwa 3 bis 4 Wochen verzichten, bevor es gesundheitlich ernsthaft bedenklich wird. Auch auf Kleidung kann ich bei diesen Temperaturen nicht lange verzichten. Darüber hinaus gibt es eine große Menge an Dingen, die wir glauben zu brauchen. Es ist eine Frage des Glaubens. Nehmen wir z.B. das Geld, das ein reines Tauschmittel innerhalb unseres Systems darstellt. Sein tatsächlicher Gebrauchswert ist sehr gering, dennoch streben wir danach es zu besitzen. Der Glaube, nicht nur an den Wert des Geldes, sondern sogar an den spezifischen Wert einer Banknote ist abhängig von unserem Glauben. Schaut man sich so einen Geldschein mal genau an, erscheint er vollkommen überladen mit Symbolen und Bildern, die ihn mit einer Art heiligen Aura versehen. Auf dem Amerikanischen Dollar steht „In god we trust“. Woran wollen wir glauben?

Spätkapitalistisches Heiligenbild

Von unterschiedlicher Seite wurde mir geraten, vorsichtig mit diesem Experiment umzugehen, weil das Fasten gewisse Gefahren für den Körper berge. Auch sollte ich lieber unter ärztlicher Aufsicht Fasten, weil der Körper vor allem Entgiftungsprozesse durchläuft, die man nicht genau vorher sehen kann. Ich nehme diese Ratschläge dankbar auf und sie machen mir auch etwas Angst. Andererseits denke ich, kann das Fasten schlimmer sein, als der Raubbau den ich sonst mit meinem Körper betreibe? Wenn ich eine Nacht lang durchgesoffen habe, 40 Zigaretten geraucht und zum Abschluss noch einen Burger mit Pommes Frites verdrückt habe, kam niemand auf mich zu und hat mir geraten, das doch lieber unter ärztlicher Aufsicht zu tun. Eben jene Gifte sind es, die jetzt wieder zum Vorschein kommen. Es wird also eine Reise durch vergangene Saufabende und Fressgelage, ich bin gespannt ob sich ein Déjà-vu einstellt.

Es liegt etwas Ketzerisches in der Konsumverweigerung, weil es der Versuch ist, sich aus der Universalschuld heraus zu stehlen. Das wird mir nicht gelingen, ebenso wenig wird es mir gelingen, gänzlich auf Konsum zu verzichten. Aber für zwei Wochen werde ich meinen Konsum auf ein Minimum begrenzen, mit dem Ziel am Ende klarer zu sehen, was notwendig und was quasi religiöse Praxis ist.

Tag 1

14. Januar 2019

Gehen wir davon aus, dass wir in einem System leben, das im höchsten Maße ausbeuterisch und ungerecht ist. Als Mitteleuropäer haben wir einen großen Teil der Warenproduktion und damit das Prinzip des klassischen Kapitalismus in Länder der sogenannten „dritten Welt“ ausgelagert, während wir in Europa jenes Prinzip weitestgehend durch einen „Neuen Geist des Kapitalismus“ ersetzt haben. Diese vermeintliche Freiheit preisend begeben wir uns in ein Prinzip der Selbstausbeutung, in dem das unternehmerische Handeln die tatsächliche Freiheit ersetzt. In tiefer Depression über diesen Zustand stürzen wir uns in hemmungslosen Konsum, der als neurotische Ersatzhandlung für unseren Drang nach Freiheit fungiert.

Als pervertiertes Überbleibsel einer resignierten 68er-Generation stehen uns Errungenschaften wie Biosupermärkte, Fairtrade-Kaffee, vegane Currywurst & Ökotourismus zur Verfügung, die gleichsam strahlende Beispiele für moralisch einwandfreie Konsumentscheidungen darstellen. Somit wird der Konsum zu einem Mittel der Statuskommunikation auf einer moralischen Ebene. Als Ausdruck von hohem sozialen Status treten die klassischen Geltungssymbole, wie eine teure Armbanduhr, in den Hintergrund und werden durch subtilere Merkmale ersetzt. Als fesch und stylisch gilt auch, wer das bestehende System kritisiert und dieses nach außen trägt. Vor allem T-shirts mit stilisierten Aufdrucken von Ernesto Guevara oder dem Schriftzug „Refugees welcome“ zeigen eine weltoffene, linke Haltung, die aber nichts weiter bedarf als eine bequeme Konsumentscheidung. Der entscheidende Prestigemultiplikator ist nicht mehr das Geld, sondern was wie konsumiert wird.

Blick in den Müllbeutel des Autors

Demonstrationen die allwöchentlich durch unsere Städte ziehen, zeigen einen immer stärker werdenden Eventcharakter, das richtige Outfit, das die entsprechende Haltung innerhalb dieses Milieus verdeutlicht, muss gekauft werden. Im Anschluss an die Demo geht es zur nächsten Party, irgendwo ist immer etwas los. Der Kapitalismus hat für seine Kritiker und die gesamte Gegenkultur Waren geschaffen, wodurch der eigentliche Protest enteignet wird.

 Aber dass wir uns nicht falsch verstehen: Mein Ziel ist es nicht mich moralisch über dieses Dilemma zu erheben. Ich bin Teil des beschriebenen Milieus und vor allem bin ich Teil des Problems. Aber ich suche nach Möglichkeiten der Wiederaneignung.

Ich denke, dass ich ein gestörtes Konsumverhalten habe. Ich esse zu viel, trinke zu viel, ich kaufe ständig unnützes Zeug und produziere Unmengen von Müll. Gleichzeitig kritisiere ich das bestehende System, verzweifle an manchen Tagen wegen der Ungerechtigkeit in der Welt. Deshalb habe ich mich gefragt: Sollte das, was ich denke und sage, nicht in irgendeinem Verhältnis zu dem stehen, was ich tue?

Hungerlyrik

Ich vermute ein massives Missverständnis zwischen mir und dem Kapitalismus: Wenn ich meinen Protest gegen das System formuliere und mit geläufigen Protestästhetiken auftrete, entwickelt das System ein Produkt für mich, weil es denkt, ich hätte ein Bedürfnis artikuliert. Das soll mich befriedigen und das System weiter stärken. Um aus diesem Kreislauf auszubrechen, muss ich wohl oder übel komplette Bedürfnislosigkeit leben. Ich glaube die einzige Möglichkeit ernsthaft gegen das bestehende System zu demonstrieren, ist die komplette Konsumverweigerung. Und heute habe ich damit begonnen. Mein Protest definiert sich wie folgt:

Ich esse und trinke nichts außer Wasser. Ich kaufe nichts und betrete kein Geschäft. Ich konsumiere nichts, was eine Ware ist. (Kosmetikprodukte, Zigaretten, Medikamente, Papier etc.)

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